Wasserburg Leuchtet 2019
Die Spannung wächst, und als es dämmert, fügt sich alles zu einem faszinierenden Gesamtszenario: Wasserburg beginnt zu leuchten!
Die XXL Seerosen sollen, so erklärt mir Urs - einer der beiden Herren des Lichts - von den Festbesuchern mit Acrylfarbe bemalt, mit Schwarzlicht angestrahlt und in die Gitter der Museumsfenster gesteckt werden. Diese Blumencollage sieht dann sicher nochmal eins schöner aus als die Dekoration des Trafo-Kastens, denke ich so für mich....
Ein paar Schritte weiter betreibt ein Bub mit aller Kraft die Skulptur aus lauter ineinander greifenden Fahrrädern mit Op-Art und Neonlicht-Effekten; die Radln gehen an ihr Limit, im Halbkreis stehen stolze Familienmitglieder. Nach dem Namen der Konstruktion gefragt, sagt mir der Erfinder und Erbauer: „Das verflixte Rad“, denn die Unebenheiten des
Kopfsteinpflasters oder die Intensität der Inbetriebnahme haben für eine herausgesprungene Kette gesorgt. So etwas passiert wohl immer wieder. Ich denke mir, Sisyphus wäre auch ein netter Name für das Objekt! Das Holzgestell nebenan mit herunterhängenden farbigen überdimensionalen Lamettafäden, so sagt man mir, wäre eine Art Eingang in die Kunstmeile Färbergasse gewesen, aber die Fülle des Angebots hat dazu geführt, dass es nun eine kleine Open Air Disco wurde. Das passt aber auch gut zu der von mir so getauften „Disco-Box“; ein minimaler, kaum das Umdrehen ermöglichender Raum, in dem der Besucher sein Handy einpluggen und mit seiner ganz persönlichen Playlist unter einer echten Silberkugel mit sich selber eine winzige Disco zelebrieren kann. Vor der Mini-Box haben sich bereits Warteschlangen von potentiellen Solotänzern gebildet, alle mit startklarem Smartphone in der Hand. Allein das wäre schon ein Foto wert.
Ein paar Schritte weiter leuchtet mir ein schwarz-weißer Tierpark entgegen. Die Einzelteile von heute Nachmittag sind jetzt zu einer Gruppe verschmolzen; zusammengefügt durch LED Beleuchtung und Pixel-ähnliche Muster, die über die Tierfiguren laufen. Vor allem die kleineren Kinder, die immer noch herumsausen und die Gasse ohne Zögern erobert haben, sind begeistert.
Als mein Blick über die angestrahlten Fassaden wandert, bleibt er an einem fragilen Muster hängen, das fast an Spinnwebenfäden erinnert und eine ähnlich komplexe Struktur hat. Ich versuche den Entstehungsort zu entdecken und kann es kaum fassen: schräg hinter mir steht eine große Pusteblume aus Metall, die nur darauf wartet, dass jemand die zarten weißen Samenfallschirme wegbläst (vielleicht wäre dafür die Nebelschussmaschine vom anderen Ende der Gasse geeignet?). Von irgendwo angestrahlt, wirft die Metallblüte einen mystisch-fragilen Schatten auf die Hauswand; die Eye-Catcher-Kulisse dafür bilden umlaufende Lichtbahnen als Rahmen um jedes einzelne Fenster.
Wenige Schritte weiter lockt eine Gruppe von Liegestühlen, die quer über die ganze Breite der Gasse aufgebaut wurden, allerdings in der niedrigstmöglichen Einstellposition. Alle Stühle sind besetzt, und ich warte gern, bis einer davon frei wird, denn die Aussicht Richtung Nachthimmel ist spektakulär: Das vermeintliche Kino zeigt kurze Filmclips, abstrakte Muster,die sich bewegen und immer neu formieren; dazwischen erscheinen einzelne Fotos im 360 °-Modus, die auf Bildausschnitten aufbauen. Ein starker Verfremdungseffekt sorgt dafür, dass man sich, ob man will oder nicht, längere Zeit mit dem jeweiligen Foto beschäftigt. Ich kann in einigen Fotos das Motiv erkennen; in anderen gelingt es mir kaum, und ich lasse dann einfach diese Farben und Formen wie ein abstraktes Gemälde auf mich wirken. Diese anspruchsvolle Optik und das Zusammenspiel mit den sphärischen Klängen im Hintergrund sorgt dafür, dass man im Flach-Liegestuhl die Zeit, die Häuser und das Straßenpflaster vergisst und meint, jeden Moment abzuheben.
Hier könnte ich es noch viel länger aushalten, aber vor dem Haus, in dem ich wohne, drängen sich förmlich Menschentrauben. Das muss ich genauer sehen, und zu meiner großen Überraschung entdecke ich die XXL Seerosen vom Nachmittag auf ein paar Biertischen; daneben flüssige Neonfarben. Die beiden Mädels an den Tischen haben schon begonnen, die Blüten nach Geschmack und Laune anzumalen, und die Festbesucher, Groß und Klein, wollen alle mitmachen. Einige Farbkleckse landen da, wo sie nicht hinsollten, ein Spritzer dekoriert den Backenknochen einer jungen Frau wie ein barockes Schönheitsmal.
Die Kinder genießen auch dieses Angebot, und Lachen und Quietschen klingt mir nach, während ich – an der immer noch vollen Minidisco vorbei – den Metallbrunnen entdecke, der das Wasser nach oben fließen lässt und mittlerweile ein Klassiker und vom Publikum immer begeistert angenommen wird. Staunende Augen rundum, die meinen Blick fast mehr fesseln als das nach oben fließende Seifenwasser. Mehrfach habe ich versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, habe in die Perlenketten aus Wasser gelangt, mich davon überzeugt, dass es echt ist, mich den Rateversuchen der Menschen neben mir angeschlossen und bin dem Rätsel nie auch nur einen Hauch näher gekommen. Manchen Dingen soll man einfach ihr Geheimnis lassen, beschließe ich und stehe gleich darauf vor einem Schwedenfeuer im Blechfass – was jetzt zwar kein technisches Geheimnis ist; allerdings sind Muster aus dem Material herausgestanzt oder ausgeschnitten worden; auf mich wirken sie wie manche mit Ruß gemalten Muster in Höhlen aus der Steinzeit, die die Jagd und das Leben feiern.
Wasserburg leuchtet eben auch analog, sage ich mir. Die vom brennenden Holz kommende Wärme ist noch gar nicht so dringend nötig, weil wir Glück haben mit einer unglaublich lauen Nacht – ich erinnere mich gut an Abende in dicker Lederjacke oder diversen kritischen Blicken in den leise zu tröpfeln anfangenden Nachthimmel – und man heute sogar im T-Shirt das Fest besuchen kann. Wie wunderbar für Veranstalter und Gäste!
Jetzt wird es Zeit fürs Brucktor: auf der Roten Brücke weht schon ein kühleres Abendlüfterl, was aber die Menschen um mich herum nicht hindert, stehenzubleiben und auf das nächste Motiv zu warten. Eine Giraffe auf leuchtendem rotem Grund macht einer Frau Platz, die mit einer Sonnenbrille ihre Tränen verbirgt; eine gut genährte Meise kommt vor einem Warhol-Motiv zu ihrem großen Auftritt. Audrey Hepburn mit der für sie charakteristischen Frisur und Kleidung lächelt vom Brucktor zu uns herunter, und gleichzeitig strömen immer noch Menschen in die Stadt, als wäre der Filmstar der 60er Jahre dort gerade live zu sehen.
Bei einem Kamel vor einer weitläufigen Wüstenlandschaft fällt mir ein, ich sollte die Flüssigkeitsaufnahme nicht über all den Eindrücken vergessen; also mache auch ich mich auf den Weg.
Als ich in die Herrengasse einbiege, bietet sich mir ein überwältigender Eindruck: riesige Licht- und Musterräder in allen Farben drehen sich in gegenläufigen Richtungen und beleuchten das ebenso bunte Angebot an Speisen und Getränken.
Während ich mich noch zu orientieren versuche, erklingt Musik, der ich sofort folge, weil die Stimmen mir bekannt sind: Super, die Brothers sind zurück! Am Eck stehen sie auf einer kleinen Bühne, umgeben von singenden, klatschenden und tanzenden Zuhörern. Ich erkenne einige Songs wieder, die ich auf meiner (autogrammgekrönten!) CD bereits zuhause habe. Eingängige Melodien, gekonnte Beherrschung der Instrumente, Leidenschaft, Rhythmusgefühl und Power der Jugend ergänzen sich ganz wunderbar zu den witzigen Ansagen. „Footprints“ heißt der Song jetzt gerade, und ich sage mir bei einem Blick auf all die lachenden Gesichter und fröhlichen Menschen im Halbkreis: das stimmt, Fußabdrücke haben die Brothers bei uns in Wasserburg wirklich hinterlassen, und nur solche der schönsten Art. Die dritte CD, Paper Plane, wird demnächst erscheinen, eine Pause wird angekündigt, so dass ich mich entspannt auf die Suche machen kann, wo ich unter all den kulinarischen Angeboten am besten mein „Wüstengefühl“ beseitigen kann.
Ein Laser-Intermezzo begleitet mich dabei, flirrende, tanzende Strahlen zu Techno-Klängen lassen die Zuschauer die Köpfe nach allen Seiten drehen: sehr spektakulär! Urplötzlich stoppen die Effekte, und ein neongrüner Einzelstrahl weist in Richtung Hofstatt. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, zumal ich dort kunstvolle Projektionen in warmen Farben auf den Häusern im Halbkreis bestaunen kann, während ich endlich etwas esse und von den Jungs hinter der Theke fröhlich begrüßt werde. Im Lauf der Jahre bin ich wohl so etwas wie ein Stammgast geworden, wenn ich mit meinen Notizen an der Theke stehenbleibe und, garniert mit dem einen oder anderen Scherz, ein Glas Rotwein und Wasser gleich serviert bekomme, ohne eine Bestellung aufzugeben. Es ist schön, so willkommen zu sein – und immer wieder beeindruckend, wie die beiden den Überblick behalten, niemals gestresst wirken, obwohl sich auch hier die Menschen stauen, und sehr cool und voller Energie ihren Job machen.
Ein irrwitziges Gefühl ist es, hier direkt neben den drei Bäumchen an einer Bar zu stehen, wo ich heute morgen noch im flirrenden Schatten ebendieser Bäume am Marktstand das Obst für mein Frühstück gekauft habe. Das macht in meinen Augen auch den Reiz von Wasserburg aus: die vielen Facetten eines Tages, die Wandlungsfähigkeit der Stadt zu den verschiedenen Anlässen, die Vielschichtigkeit des Miteinander – aber in allem Offenheit und Leichtigkeit in einer Präsenz, wie man sie in Städten dieser Größenordnung nicht häufig findet.
Ich freue mich noch kurz über „meine“ kleinen Bäume, die grad zwischen Akazienhonig, Froschgrün und Nussbraun changieren, verabrede mich mit den Jungs fürs nächste Jahr und verschwinde winkend und lachend im Menschengetümmel.
Als ich in die Ledererzeile einbiege, sehe ich ähnliche Teufelshörnchen wie die beleuchteten im Haar einiger junger Frauen, die blinkend, aber nicht dämonisch, durch die Gassen ziehen.
Nur sind diese Hörner hier um einiges größer und formieren sich zu einem Spalier, das den Besucher an Leuchtartikeln und weiterem Speiseangebot vorbei bis hin zum Open Air Kino lotst – auch hier kein freier Platz, aber das macht kaum etwas. Allein die Tatsache, dass es sich viele Menschen nicht nehmen lassen, mitten auf der Straße, mitten in der Altstadt, bei jetzt doch etwas frischeren Temperaturen, einen Film anzuschauen, ist schon bemerkenswert. Ein „Politfilm“ mit staubtrockenem und typisch bayerischem Humor wird gezeigt, und das zum großen Vergnügen des Publikums.
Ich schlendere noch entspannt durch die sich langsam leerenden Gassen, ratsche und lache mit Bekannten und Freunden, sammle kleine Augenblicke und gehe am „Horizontalkino“ vorbei bis zu dem Haus, in dem ich wohne.
Als ich die Haustüre schließe, fällt mein letzter Blick für dieses Fest auf Dutzende bunt bemalte Riesenblumen, die in den Fenstergittern des Heimatmuseums stecken und mich zum Lächeln bringen. Auch wenn ich nächstes Jahr weder Block noch Stift dabei haben werde, steht es heute schon fest, dass ich auch, dann aber als Besucher, wieder dabei bin, wenn Wasserburg mit Kreativität, Fröhlichkeit, friedlicher Feierlaune und viel Farbe und Licht in die ersten Herbstnächte hineinleuchten wird wie ein Symbol.