Wasserburg Leuchtet 2018
Ein Donnerstagabend, Mitte September: ich bin zuhause und höre Regentropfen. Mit hochgezogenen Augenbrauen gehe ich ans Fenster und schaue skeptisch hinaus, denn morgen Abend findet das letzte und, wie ich finde, schönste Fest des Jahres statt - Wasserburg leuchtet. Ich kann nur hoffen, dass sich das Wetter bis morgen ändert und die Vorbereitungen und das Engagement der Initiatoren sich gelohnt haben, um die Stadt für einen ganzen Abend lang in ein besonderes Licht und außergewöhnliche Stimmung zu tauchen. Meine Gedanken werden von ein paar Gestalten unterbrochen, die sich im Halbdunkel der Gasse auf und ab bewegen und offenbar mit den ersten Aufbauten beginnen. Das ist ein gutes Zeichen! Ich muss lächeln und freue mich wie immer vorbehaltslos auf Licht, Sound, Menschen und das stets neue Staunen.
Szenenwechsel: Freitag nachmittags: die Sonne bahnt sich zögerlich, aber dennoch, einen Weg durch die Wolken, die gerade von einem Herbstlüfterl zur Seite geschoben werden. Ich kann es kaum glauben, aber die Magie des Fests bewirkt wohl eine Art Wetterzauber! Dort, wo gestern noch Kabel verlegt und Boxen aufgestellt wurden, kann man jetzt schon ein Konzept erkennen. Ein LKW hält, ein paar Jungs vom Aufbauteam laden Liegestühle aus und ich beschließe, dass ich genau hier, auf einem dieser Stühle, heute Abend sitzen werde und die Bilder auf mich wirken lasse, die auf den Projektionswänden erscheinen werden. Eine Frauenstimme ruft: „Und? wird’s?“ und einer vom Team antwortet: „Ja, wird. Sengma uns heut Abend?“. „Ja, unbedingt“ kommt es prompt zurück. Somit habe ich mein Motto für dieses Mal bereits bekommen: wird schon werden, egal wie viele oder wie wenige Wolken da oben grad vorbeiziehen, - das Fest beginnt.
Jetzt hält mich nichts mehr am Schreibtisch – ich muss raus! Es erinnert mich ein bisschen an Salzburg, wo der Intendant der Festspiele sagt, mit deren Beginn kocht die Temperatur in der Stadt automatisch um ein paar Grad höher. Als Miniversion erlebe ich genau das auf „meiner“ Halbinsel: die Teams sausen scheinbar chaotisch, aber tatsächlich zielgerichtet durcheinander, dazwischen erklingen Rufe und auch Gelächter; Urs ruft mir ein „Sàlü“ zu und ist schon wieder verschwunden, bevor ich antworten kann, während Moritz das ganz in Schwarz gekleidete Security Team einweist – eine coole Optik. Ich mustere inzwischen die Schiefertafeln der Stände mit Schmankerln und Snacks und treffe eine kleine Vorauswahl, was in Anbetracht des vielfältigen Angebots nicht leicht wird. Laut lachen muss ich aber in dem Moment, als einer der jungen Männer von der Open Air Bar an der Hofstatt meinen Schreibblock sieht, mir zuwinkt und sich offenbar an meine traditionelle Schreibpause an der Theke erinnert: „Rotwein und Wasser wie oiwei?“ „Sowieso, a bisserl später gern!“. Trotz Dauerstress bewahrt das Barteam immer Gelassenheit, Konzentration und Freundlichkeit – beeindruckend! Das kleine Fest vor dem Fest hat hier, gemischt mit Vorfreude und Spannung, seinen ganz eigenen Charme.
Wie freue ich mich, als ich sehe, dass die Brothers aufbauen: die Bühne füllt sich mit Instrumenten, und ein kleiner Ratsch mit den Drei ergibt, dass eine dritte CD in Arbeit ist und einige neue Songs, zusammen mit den „Klassikern“ vom letzten Mal mit im Gepäck sind.
In der Färbergasse gibt es auf einer Leinwand Wasserfälle zu sehen, die nach oben fließen, dazu faszinierende Akkordeonmusik. Die Liegestühle, von denen ich nachmittags schon einen in Gedanken reserviert hatte, sind auf zwei weitere Projektionswände ausgerichtet: ein Film aus den 80ern, Über den Dächern von Wasserburg, mit fröhlich über die Dachschrägen spazierenden Kaminkehrern, unbekannten Perspektiven mit Wo-kann-das-denn-sein-Effekt und Blicken in verborgene Winkel dieser besonderen Stadt. Als Kontrastprogramm gibt es in einem futuristischen Animationsfilm Drumsticks, die scheinbar von unsichtbaren Händen bewegt werden, Technomusik wird in abstrakte Objekte umgesetzt – oder ist es umgekehrt? Als ich näher trete, fesselt eine orange-gelbe Kreuzung aus Krabbe und Wal gerade vor einer surrealen Kraterlandschaft, während zur Rechten der Leinwand schwarz-weiß illuminierte Objekte aufleuchten, zu denen ein Lichttunnel führt: Gorilla, Hase, Hund und Schnecke kann ich erkennen; werde aber dann aufmerksam auf Kinder, die fragen: „dürfen wir da durchgehen?“ Und das tun sie dann auch, fröhlich hüpfend, während ich ein paar Schritte weiter ein besonderes kleines Lichtspiel entdecke: eine Installation, bestehend aus einer dicken Glaslinse, die an einem Band vor einem Thymianzweig hängt, beides von einem Lichtstrahl so beleuchtet, dass man an dem optischen Vexierspiel auf der roten Hausfassade fast irre wird an dem eigenen Sehvermögen und sich in den Linien und Formen verliert.
Zurück zu mir selbst finde ich nach wenigen Schritten in der Hofstatt: Projektionen auf den mittelalterlichen Häuserfronten, chilliger Sound und ein Glasl Rotwein an der Bar – ohne Pfandmarke, worauf ich schon fast stolz bin. Das muss man sich ja erst mal erarbeiten, denke ich mir, während ich skeptisch die überdimensionalen Insekten mustere und froh bin, dass sie sich ganz friedlich auf den XL-Blüten niedergelassen haben. Eine Bewegung lenkt meine Beobachtung auf drei offene Fenster dazwischen: auf den Fensterbrettern sitzen Bewohner und Besucher, und ihre nach außen hängenden Beine wippen, umrahmt von den gemalten Beinen der Monsterinsekten, zum Takt der Musik: ungeplante Situationskomik!
Als ich mich durch die Mengen von Menschen durchbewege, bleibe ich am Beginn der Ledererzeile überrascht stehen: ausgerollte Schneckenhäuser in orange und türkis bilden eine Art Spalier als Entree für den Open Air Film „Schattenwald“, der im nahen Chiemgau spielt und eine Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion, Traum und Vision vorführt – sehr stimmig zur Atmosphäre dieses Abends, und das finden sicherlich auch all die Zuschauer, die die Liegestühle bis auf den letzten Platz belagert haben.
Während ich durch das Fest schlendere, schrecke ich plötzlich auf: darf das denn wahr sein, trotz lauer Luft ein Gewitter? Der Blick nach oben lässt mich erst staunen, dann lachen: eine Art von Riesenwattebausch, anthrazit gefärbt und durch Lichtblitze von innen erhellt, sorgt für die optische Täuschung – wie witzig! Und wie gut, dass es nur fake ist.
Auf dem Weg zu den Magnolien neben der Eisdiele erreicht mich im Vorbeigehen ein Gruß: eine winkende Hand, ein Lachen, ein „Ciao Bella!“ – und schon habe ich wieder einen meiner geliebten italienischen Mini-Momente eingepackt, ganz en passant und ohne danach zu suchen. Als nächstes erstaunt mich das von mir zunächst so genannte „Kinderprojekt“ : ich bin jetzt sehr beeindruckt und korrigiere mich sofort. Die 7. Klasse der Mittelschule hat in dreimonatiger Arbeit „Laternenfische“ gebaut, d.h. mit einer Laubsäge aus Plexiglas ausgeschnitten – so erklärt es mir ihr Lehrer mit Lachfalten um die Augen. Vor den Fischen hängen winzige, von unsichtbaren Batterien gespeiste LED-Dioden, und darunter baumeln vereinzelt Minifischerl, weil auch das Restmaterial sinnvoll – und lustig – verwendet wurde. Am besten gefällt mir ein Exemplar, dessen Unterkiefer wohl durch eine Materialermüdung abgebrochen ist, weil mich das Unterwassermonster so an einen grantigen Sägefisch erinnert.
Ein Blick auf die Uhr treibt mich zur Frauengasse: die Brothers spielen schon! professioneller Sound, Power, Jugend, Leichtigkeit, und das noch garniert mit witzigen Anmoderationen. Das finden offenbar auch sehr viele Menschen, die lachend, klatschend oder mittanzend quer über die Herrengasse bis hin zu den Bögen vor dem Museum stehen. Gekonnte Gitarrenriffs wechseln sich ab mit sanften Love Songs, die, wie die Brüder glaubwürdig versichern, innerhalb von dreieinhalb Minuten eine effizientere Partnervermittlung garantieren als so manches Datingportal. Als sie „Shine your Light“ gegen Ende des Auftritts singen, haben sie alle Umstehenden für sich gewonnen, spätestens als sie erklären, dass sie damit dazu aufrufen wollen, ganz man selbst zu sein, egal was irgendwelche Deppen außenrum sagen. Großer Applaus und Trauben von Mädels am Bühnenrand sind die letzten Eindrücke, bevor ich ums Eck Richtung Inn gehe. Das war auch in diesem Jahr eines der ganz großen Highlights für mich und für viele andere.
Auf der Außenfassade des Brucktors wechseln sich Hydranten mit knallroten Monstern ab, auf Graffiti, die von Keith Haring zu sein scheinen, folgen Buchstabenketten, die wirken wie der Inhalt eines umgekippten Suppentellers mit gelber Buchstabensuppe aus einer lang vergangenen Kindheit. Am originellsten finde ich dieses Jahr Rotkäppchen und den Wolf, aber nicht in der klassischen Grimm-Version, und auch nicht wie bei James Thurber, wo das Rotkäppchen den Wolf mit einem MP niederballert, sondern in einer gemäßigten, aber nichtsdestotrotz witzigen und kreativen Mischvariante: Rotkäppchen reitet auf dem Wolf und dirigiert ihn zielstrebig, während er, wie ein dressierter Hund, brav den leeren Kuchenkorb vor sich herträgt. Sehr schön.
Jetzt aber: Hunger, Durst, Heimweh! (das war bestimmt der geleerte Essenskorb)!! Mit Heimweh hat es noch keine Eile, aber für Hunger und Durst gibt es grad nichts Besseres als ein knuspriges Pizzastück, ein Glasl Rotwein und eines mit Mineralwasser, während die Hofstattprojektionen sich abwechseln und ich beglückt „meine“ Minibäume begutachte, die gerade in bordeauxrotes Licht getaucht sind, und, weil das noch nicht genug ist, von flirrenden grünen Laserstrahlen gestreift werden.
Die ersten Besucher machen sich langsam auf den Heimweg. Ich drehe noch zwei, drei Runden, begrüße Freunde, und mit Ratschen, Lachen, Schauen und Staunen vergeht die Zeit wie im Flug. Jetzt erst wird mir bewusst, dass es immer noch trocken geblieben ist und on top noch so mild, dass einige Menschen es sogar noch kurzärmelig aushalten! Einen stummen Dankesgruß schicke ich schnell nach oben und freue mich, dass das Fest es wieder einmal geschafft hat, den Herbst noch um eine wunderbare Nacht hinauszuzögern
Während ich heimgehe, speichere ich viele der kleinen Momente ab, die ich eingesammelt habe und ernenne im Vorbeigehen den kleinen Thymianzweig mit dem faszinierenden Linienspiel zum Lieblingsobjekt des Jahres. Urplötzlich segelt eine vereinzelte Seifenblase auf meine Nase zu – ich denke mir, wo kommst du denn her? und wundere mich über diesen Zufall. Das Fest im vergangenen Jahr endete ebenso: mit einer Seifenblase, die mir wie ein Versprechen erschien, dass Wasserburg auch nächstes Mal wieder leuchten wird. Das Fest und die Nacht haben heute ihr Versprechen gehalten, sage ich mir, als ich langsam die Türe hinter mir schließe und sich draußen ein leuchtender Wasserburger Spätsommerabend in die erste Herbstnacht dieses Jahres verwandelt und mir und den anderen Besuchern bis zum nächsten Jahr viele zauberhafte bunte Erinnerungen geschenkt hat.
H.K